Nur ein Hauch und doch so wahr
Jugendbuch | Elisabeth Steinkellner; Michaela Weiss: Die Nacht, der Falter und ich
Von der Gefühlswelt sehr junger Menschen wird viel gesprochen. Seltsam sei sie, verwirrend und verwirrt, etwas, dem die Betroffenen hilflos ausgeliefert sind. Ebenso wenig zu fassen wie ein Lufthauch. Nicht materialisierbar. Ob das stimmt? Elisabeth Steinkellner hat sich zusammen mit Michaela Weiss mutig aufgemacht, Gefühle sichtbar zu machen, in Wort und Bild. Und den Gegenbeweis geliefert. Von MAGALI HEISSLER
Für ihre Reise ins Innerste braucht Steinkellner nicht mehr als ein Ich und ein Du, jemand spricht, jemand wird angesprochen. Das muss nicht immer hörbar sein, vieles erklingt nur im Innern des jeweils erzählenden Ichs.
Angeregt werden die Gefühle durch Veränderungen, den Wechsel der Jahreszeiten, der Tageszeiten, durch die Begegnung mit Menschen. Durch verändertes Licht, Farben, Geräusche. Was ausgelöst wird, ist wild, allbeherrschend, das Ich reagiert mit freudiger Überraschung, mit viel Neugier. Alles ist rauschartig bis zum Chaos. Die Worte, die Steinkellner dafür findet, zergliedern das Gewirr in klar Erfassbares. Zugleich wird es durch die Benennung nicht zerstört. Es geht nicht um Entmystifizierung, sondern um Entdecken mithilfe der Sprache. Das ist ein besonderes Geschenk für das jugendliche Publikum.
Ich und Du und die Facetten der Liebe
Es wäre zu leicht, die Gefühle auf Schwärmerei, Verliebtheit, sexuelles Begehren zu beschränken. Steinkellner geht es darum, Komplexität und Gleichzeitigkeit im Gefühlserleben zu beschreiben. Traum und Realität, die Wolken am Himmel oben, Brombeersaftflecken, das kühle Wasser des Badesees, die überraschende Wärme eines fremden Pullovers, heimliche Abschiedstränen ganz irdisch, beschreiben einen Sommertag intensiver und klarer, als es ein punktgenaues Stundenprotokoll einschließlich meteorologischer und physikalischer Daten je tun könnte. Das jeweilige Gegenüber ist Teil dieser Komplexität, allerdings ein wesentlicher. Die Liebe, um die es immer wieder geht, hat viele Facetten. Sie heißen Freundschaft, Zuneigung, Sympathie, Sehnsucht. Wem die Liebe gilt, muss nicht immer gleichaltrig sein, auch Jüngere, Ältere und Alte sind ihr Gegenstand. Was Steinkellner darüber hinaus leistet, ist, dass nicht immer genau festgelegt ist, welches Geschlecht das jeweilige Ich und Du haben. Wie die wechselnden Gefühle, bleibt mitunter auch in der Schwebe, ob ein Junge spricht oder ein Mädchen und mit wem sie gerade zusammen sind.
Die Texte sind allesamt kurz bis kürzest, sehr verdichtet, gleich, ob sie in reiner Prosa oder in gebrochenen Zeilen bis hin zu Gedichten daherkommen. Sie machen die Lektüre zu einer intensiven, innigen. Sie schaffen einen privaten Raum aus Worten, in den sich jugendliche Leserinnen und Leser zurückziehen können. Zugleich öffnet er ihnen die Welt, in dem Gefühle benannt werden und durch die Benennung wiederum freie Assoziationen geweckt werden.
Fassbar-unfassbare Schönheit
Michaela Weiss hat ihre Illustrationen komponiert wie Steinkellner die Worte. Die Sorgfalt bis ins letzte Detail lässt eine immer wieder staunen. Doch während die Worte klären, Nebelwolken fortschieben und sei es nur für einen winzigen Moment des Wiedererkennens, betonen die Bilder das schwer Greifbare. Sie sind zart in Umriss und Farbgebung, was sie wiedergeben ist verhangen, ein wenig verschwommen. Drei Brombeeren am Zweig, ein Blattgerippe sind realistisch und Märchen zugleich, Fantasiegebilde und wahr. Vor allem aber sind sie schön. Es geht um Schönheit hier, die ganz besondere, die Gefühle eigen ist. Um Echtes, um das Wahre.
In den Bildern kann man versinken wie in den Texten. Die Zuordnung ist ebenso wenig eindeutig, wie manches in den Texten in der Schwebe bleibt. Zuweilen geht die Illustration dem Textstück voraus, man wird eingestimmt. Ein anderes Mal folgt es ihm, zieht Bilanz. Immer deutet das Bild und immer enthält es zugleich ein Geheimnis, das nicht zu entschlüsseln ist. Atmosphärisches, Stimmungen entwickeln sich fast unmerklich, ein leises Wunder, um den Titel eines der Gedichte zu zitieren.
Dieses kleine Buch gibt der Leserin mehr als ein paar schöne Stunden, es schenkt ihr ihr Innerstes. Das, wofür man so oft keine Worte findet. Oder, wenn man sie hat, nicht wagt, sie auszusprechen. Die Worte, die Steinkellner gefunden hat, müssen übrigens keineswegs die sein, die Leserin und Leser übernehmen sollen. Die Künstlerinnen geben nichts vor. Sie öffnen nur den Raum. Was man darin tut, wie man empfindet und wie man es für sich ausdrückt, bliebt einer selbst überlassen. Etwas Wahres fühlen ist eine Form des Freiseins. Steinkellner und Weiss haben einen goldenen Schlüssel dafür geschmiedet.
Titelangaben
Elisabeth Steinkellner; Michaela Weiss: die Nacht der Falter und ich
Innsbruck, Wien: Tyrolia 2016
125 Seiten. 14,95 Euro
Jugendbuch ab 13 Jahren
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| Leseprobe
"Faltherz" & "Leuchttage" - von der Leichtigkeit und Schwere des Erwachsenwerdens. (ab 13) (JL)
Gleich beim Öffnen spürt man es: Hier liegt "etwas winterlang Ersehntes" (S. 9) in der Luft. Elisabeth Steinkellners sinnliche Lyrik und Kurzprosa nähert sich eindrucksvoll diesen großen Gefühlen, der tief empfundenen Sehnsucht an. Sensibel schildert die Niederösterreicherin den Alltag Heranwachsender, jene Momente, in denen die Sinne hellwach sind und man das Leben doppelt so intensiv spürt. Diese "Leuchttage" mit den harmlosen Gesprächen abends am Fluss, bei denen so viel mehr mitschwingt und die roten Wangen verraten, wie es im Inneren wirklich aussieht.
Behutsam beschreibt sie das An-der-Schwelle-Stehen, die erste Verliebtheit, die Hochspannung beim vorsichtigen Herantasten an neue Möglichkeiten. Erzählt von Eltern, die nicht greifbar sind, von diesen Tagen ohne Rand und von Emotionen, die alles Denken einnehmen: Da fühlt man unendliche Traurigkeit, wenn sich das lyrische Ich in "Faltherz" am liebsten zusammenfalten würde, um zu den Fotos in der Schachtel, in die Arme der toten Mutter zu kriechen. Oder tiefe Melancholie, wenn sich das Grau schon am Morgen neben einen ins Bett legt und man darauf hofft, dass einem "ein wärmender Arm entgegenwächst" (S. 70). Da ist die Rede von überbordenden Gefühlen, die Salto schlagen, vom Schmerz unerwiderter Liebe und der Sehnsucht nach Nähe, die sich tonnenschwer aufs Herz legt. Oder von den zehn Sekunden beim Flaschendrehen, die die Welt aus den Angeln heben können.
Zeilen wie "im Sommer riecht das Gras gelb" (S. 19) führen hinein in ein atmosphärisches Stimmungsbild, malen ein poetisches Farbenspiel auf die Seiten, das zum schwindelerregenden Gefühlskarussell der Pubertät passt - von melancholisch-grau zu aufgewühlt-bunt. Die zarten Illustrationen von Michaela Weiss greifen diese leisen Zwischentöne einfühlsam auf. Für Schulbibliotheken, Öffentliche Bibliotheken, für Jugendliche und Erwachsene und alle, die wissen wollen, wie es sich anfühlt, das Jungsein! So einen Band hätte ich mir mit fünfzehn gewünscht!
bn.bibliotheksnachrichten, Cornelia Gstöttinger
Worte malen die ganze Welt
VON MIRIAM VON DER HEYDEN
In einer facettenreichen literarischen Sammlung aus Prosa, gebrochenen Zeilen und Gedichten wagt Elisabeth Steinkellner eine Reise in die Gefühlswelt junger Menschen, die auch die Migrationsthematik mit einbezieht. Feinfühlig thematisiert sie das emotional verworrene, tiefe Empfinden Jugendlicher und lässt dabei viel Spielraum für eigene Imagination und Identifikation mit Erlebtem und Gefühltem. Die gesamte emotionale Spannbreite von Liebe, Wut, Enttäuschung bis hin zur Trauer findet sich in diesem Werk und bietet den LeserInnen einen individuellen Rahmen für eine Entdeckungsreise in die eigene Emotionswelt: "Und an der Abzweigung werden unsere Hände einander zuwinken, bis morgen dann, vielleicht. Wer weiß, wie viele Leuchttage es noch gibt, bevor das Oktobergrau überhandnimmt. Und zu Hause, dann im Vorraum, ein flüchtiger Blick in den Spiegel, der die roten Wangen bemerkt und den Pulli, der nicht meiner ist." Titel wie "Erdbeerkiwikarussell", "Herzklopfen" oder "Frost" lassen erahnen, welch intensive Gefühle angesprochen werden.
Steinkellner beschränkt sich auf nicht eindeutig identifizierbare Personen, die als Ich-Erzähler mit einem ‚Du’ kommunizieren oder ihre Emotionen in einem inneren Monolog darstellen. Feinfühlig geben die Gedichte empfundene Stimmungen wieder oder lassen sie anklingen. Ohne eine durchgängige Erzählung und Rahmenhandlung steht das Erlebte und Empfundene in jeder einzelnen Erzählung für sich. Kleine Begebenheiten, Veränderungen, der Wechsel der Jahres- oder Tageszeiten und Begegnungen mit Menschen unterstreichen und intensivieren die entstehenden Emotionen und werden von der Illustratorin Michaela Weiß feinfühlig umgesetzt. Die in Lavendeldruck und Radierungen gestalteten Bilder können nicht durchgängig einem bestimmten Text zugeordnet werden, sondern spiegeln auch Stimmungen, die in mehreren Texten zu finden sind, wider. Sie spüren Gefühlen nach und verstärken diese, bieten in ihrer Schönheit die Möglichkeit, in sie einzutauchen und sie losgelöst vom Text zu betrachten. Sie entwickeln dann eine ganz eigene Bildersprache. Das wiederkehrende Bild des Falters, der auch auf der Titelseite und im Titel des Buches zu finden ist, begleitet die LeserIn auf der Reise durch die poetischen Texte.
Interessant erscheint das Buch nicht nur für Jugendliche, die sich mit ihren Gefühlen auseinandersetzen möchten, sondern für alle, die eine Reise in die Gefühlswelt unternehmen möchte. Im Schulunterricht kann dieses Buch sowohl im Deutsch- als auch im Ethik- oder Religionsunterricht eingesetzt werden und bietet Raum für Textanalysen und Gespräche über Emotionen sowie über Erlebtes und Erfahrenes. Ebenfalls geeignet erscheint es für den Kunstunterricht. Insgesamt betrachtet begibt sich Elisabeth Steinkellner mit dieser Sammlung von Gedichten und Kurzgeschichten in jene Gefühlswelt, in der junge Menschen im Umbruch zwischen Kindheit und Erwachsensein ihren Platz suchen und bietet dabei vielzählige Identifikationsmöglichkeiten.
Prosa-Miniaturen und Lyrik vermischen sich zu einer feinsinnigen Textsammlung, die – in drei Kapitel gegliedert, ohne ausgeprägten inhaltlichen Zusammenhang – um Stimmungen und (Jahres-)Zeiten, Aufbrüche und Veränderungen, um Miteinander und für sich Sein, Innehalten und Beobachten kreist. Atmosphärisch, mehr zwischen den Zeilen, teilt sich das erzählende Ich mit, lädt zugleich ein, Anteil zu nehmen, nachzuhorchen, wiederzuerkennen, vielleicht zu erinnern. Es sind flirrende Momentaufnahmen an der Schwelle zum Erwachsenwerden, ein neugieriger Blick auf die Welt, der Irritation ebenso wie kleines Glück, Verunsicherung ebenso wie spontane Freude fokussiert. Dazwischen die mit Bedacht positionierten Illustrationen, mikroskopisch-filigran, undeutlich-deutlich. Still. Und doch: Der spezifische Sprachklang schwingt auch auf der visuellen Ebene – ein kaum merkliches Summen, ein zarter Flügelschlag, ein feiner Windhauch; Worte und Bilder inspirieren einander und entfalten sich zu einem ganz besonderen Zusammenspiel.
1000 und 1 Buch, Ela Wildberger
Alle Jugendliteratur erzählt vom Erwachsenwerden, und sie tut es oft in grossen Geschichten: in Erzählungen, in denen sich ein Ich unaufhaltsam zu einer festen Gestalt formt, zu einer unverwechselbaren Stimme findet. Wenig Erzählraum ist dagegen den Momenten gewidmet, in denen sich dieses Ich gerade über sein Unbestimmt-sein, sein Verflochten-sein mit der Welt, über seine Fluidität und Grenzenlosigkeit erfährt; Momenten, in denen die «Haut schuppt und darunter sattes Grün zum Vorschein kommt» und etwas «winterlang Ersehntes» in der Luft liegt.
Die Österreicherin Elisabeth Steinkellner widmet ihren Erzähl- und Lyrikband ganz diesen flüchtig-intensiven Gefühlen und Erfahrungen: den heissen «Hochspannungsleitungen» der Jugend wie ihrem selbstvergessenen Lauschen auf das Echo eines warmen Sommertages. Das erlebende Ich in den drei Erzähl- und Lyrikzyklen fühlt intensiv und mit allen Sinnen, es ist körperlich, fast greifbar, bleibt aber unbestimmt in Alter und Geschlecht und damit offen für alle Assoziationen und Einschreibungen. Auch die Sehnsucht dieses Ichs wechselt beständig die Gestalt, sie «trägt mal ein bauschiges, knallgrünes Partykleid, dann wieder einen engen, schwarzen Herrenfrack», sie «entzieht sich der Erziehbarkeit» und «gibt sich nicht mit dem Möglichen zufrieden». Michaela Weiss fängt diese Sehnsucht nach Wandel wie Verbundenheit in ihren filigranen Illustrationen auf und lässt sie immer wieder um den titelgebenden Falter kreisen: Er wird zum Bild der Metamorphosen, die das Ich durchlebt, während es auf Schlittschuhen Muster ins Eis kerbt: «mein Weg zieht Furchen in die Haut der Welt». Bei Jugendlichen, die in der Literatur nach einem Echoraum für ihre vielfältigen Gefühle und Sehnsüchte suchen, dürfte dieser zarte Band tiefe Spuren hinterlassen.
Manuela Kalbermatten
Buch&Maus 1/17, S. 36
Es gibt im Leben eines heranwachsenden Menschen eine Zeit, da schaut er sein Spiegelbild genauer an. Plötzlich macht er Dinge, die er sich vorher nie getraut hat. Unbekanntes wird ausprobiert. Eine kurze Berührung im Bus lässt ihn die Welt anders erfahren. Er beginnt, gegen den Wind zu laufen, und von einem Moment auf den andern verwandelt sich ein sonniger Tag in einen nachtschwarzen.
Eine Fülle von Gedichten und Erzählungen schildern die ambivalenten Gefühle, welche das Erwachsenwerden begleiten und das Leben kompliziert machen. Die Texte sind klar und einfach, fast puristisch. Sie regen zu eigenen Gedanken an. Drucke und Radierungen in Pastellfarben begleiten die Texte und machen Gefühle sichtbar. Ein kleines Gesamtkunstwerk, in dem sich vor allem Heranwachsende wiedererkennen.
Monika Aeschlimann, KJM